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Eigene Erinnerungen aus jener Zeit von Franz Josef Blümling
Die Hamsterei mit Vater

Die ersten Jahre nach dem Krieg waren sehr hart. Es fehlte an allem. Die Kriegsschäden an den Häusern mussten repariert werden, dabei fehlten die benötigten Baumaterialien. Man half sich gegenseitig aus. Es wurde richtig Hunger gelitten, und besonders Kinder bekamen nicht selten Schwächeanfälle. Die Reichsmark hatte nur noch Papierwert. Da konnte man mit Wein, von dem man zumeist noch Restbestände hatte, schon mehr unternehmen. So erwarb man für eine Flasche Wein in der Regel drei Heringe. Heringe kamen von Norden, aus der britischen Besatzungszone. Sie waren in Salz eingelegt, somit gut konserviert und nicht zuletzt auch sehr nahrhaft. Hatte man Heringe, konnte man diese auch wieder gegen Dachpappe eintauschen. Hatte man davon etwas übrig, erhielt man dafür evtl. einige Bimssteine u.s.w. u.s.w.. So gab es denn die sogenannte Heringswährung und den sogenannten Heringswein.

Wir saßen immer mit neun Personen am Tisch. Einmal in der Woche, und zwar freitags, gab es als Abendessen für alle zusammen drei Heringe und Pellkartoffel mit einer Zwiebelsoße. Ich bekam immer das Endstück vom Hering, weil ich ja der Jüngste und Kleinste in der Familie war. Als ich einmal reklamierte, dass sich die Eltern stets das Mittelstück zuteilten, musste ich auf der Stelle den Abendtisch verlassen und hungrig ins Bett gehen.

Was in der Moselgegend fehlte, waren insbesonders fetthaltige und kaloriereiche Nahrungsmittel. So mussten die Moselaner in der Regel Wein und Schnaps in den Rucksack packen, zu den Bauern in der Eifel und Hunsrück hingehen, und den Tausch gegen Butter, Speck und Schinken anbieten. Dies war dann die Hamsterei – ohne die es kein Überleben gab.

Aus einem alten Bestand unseres Gemischtwarenladens hatten wir noch einen recht üppigen Bestand von Backpulver und Rollen von Gummiband. Damit ging mein Vater in der nahen Eifel hamstern – hatte natürlich nebenbei auch noch Wein und Schnaps im Rucksack. Ich hatte aufgrund der Wirren noch keinen Schulunterricht. So nahm mich Vater oft zur Hamsterei mit. Dies brachte, wie es sich noch zeigen wird, zum Unterfangen echte Vorteile.

Wir hatte ein Fahrrad über den Krieg hinaus gerettet. Solche mussten abgegeben werden, als die deutschen Soldaten vor Alliierten flüchteten. Auf unserer üblichen Tour ging es den Bremmer Berg hoch. Dann musste Vater das Fahrrad schieben, und ich tippelte hinterher. Oben angekommen, setzte Vater mich auf die vordere Querstange des Fahrrades, die er mit einem Sack umwickelt hatte. So fuhren wir durch die Ortschaften – vorwiegend war es Beuren, Kliding und Urschmitt.

In den Dörfern klopften wir an den Türen der Bauernhöfe und boten unsere Tauschobjekte an. Ich war damals sehr schmal und blass, hatte etwas abstehende Ohren und sollte, laut Vater, immer einen traurigen und hungrigen Eindruck machen. Dies hatte auch nicht selten die gewünschte Wirkung. Man nahm uns rech oft mit in die Stube. Dort erhielt ich schon mal eine Tasse Milch oder auch ein Butterbrot, während Vater seine Tauschgeschäfte abwickelte. Am besten ging unser Geschäft, wenn in dem jeweiligen Ort das Kirchweihfest bevorstand. Dann lockte man uns auch schon mal von der Straße ins Haus, da man zum Kirmeskuchen ja Backpulver benötigte. Und Vater war als „Backpulvermann“ überall bekannt.

Kritisch waren die Eifeler Bauern, wenn man gegen Wein einen Tausch machen wollte. Der sogenannte Heringswein war nicht immer von guter Qualität. Das war allgemein bekannt. Viele Bauern hatten schon schlechte Erfahrungen gemacht. So musste Vater schon mal vorab eine Kostprobe geben.

In aller Regel hatten wir dann am Abend den Rucksack voll mit wertvollen kaloriehaltigen Nahrungsmitteln und radelten, fast wie im Sturzflug, bergab wieder ins Moseltal, was mir immer großen Spaß brachte. Oft sangen wir auch bei dieser Schussfahrt.

Nun musste noch der Fährmann parat stehen für die Überfahrt nach Neef, was jedoch nicht immer sofort funktionierte. Oft mussten wir lange und laut „hol über“ rufen, bis er endlich kam. Nicht selten saß er mit seinen Kumpanen in der Fährbude beim Kartenspiel oder bei intensiven Männergesprächen fest und machte seinen Dienst mit großem Unbehagen. Wenn Vater ihn allerdings vom Gehamsterten etwas abgab, war er umgehend zufriedengestellt und erschien nun doch gut gelaunt wieder bei seinen Sinnesgenossen in die Fährbude.

Zu Hause empfing uns die Familie mit großem Wohlbehagen, und Vater verteilte gerne vom Mitgebrachten eine kleine Probe.

Einmal hatten wir großes Glück bei der Hamsterei. Wir konnten ein mittelgroßes Schwein erwerben – einen sogenannten Läufer. Nun konnten wir diesen natürlich nicht mit der Fahrrad nach Hause bringen. Das tat Vater später mit einem Leiterwägelchen. Damit wir das Schwein ganz für uns behalten konnten, und nichts davon den Franzosen abgeben mussten, wurde es sofort „schwarz geschlachtet.“ Eine ganze Nacht lang machten wir dann auf dem Speicher bei verdunkelten Fenstern Wurst, legten Pökelfleisch ein, und Schinken kam in das Rauchhäuschen.

Der misslungene kulturelle Beitrag
zweier Lausbuben in der Zeit nach dem Krieg

Nach den schlimmen und entbehrungsreichen Kriegsjahren dürstete das Volk förmlich nach anspruchsvoller Unterhaltung und Kultur. So wurde auch in unserem Dorf Theater gespielt, woran sich jedoch hauptsächlich die Erwachsenen laben durften. Auch gab es ab und zu Filmvorführungen – allerdings auch wiederum nur für die Grossen.

Mein Freund Erich und ich, wir waren 8 Jahre alt, sahen es in dieser Situation als einen Wink des Schicksals, auf dem Speicher von Erichs Onkel, den auch ich Onkel Heinrich nannte, einen Film-Projektor vorzufinden. Zu dem Projektor gehörten zwei runde Glasscheiben, auf denen sich am Rande jeweils 12 Bilder befanden. Heute würde man dazu Dia-Positive sagen. Die Glasscheiben wurde in den Projektor eingelegt und ließen sich drehen. Zündete man dann eine im Apparat befindliche Petroleum-Lampe an, wurde an der Wand das entsprechende Bild ersichtlich.

Die Qualität des ausgeworfenen Bildes richtete sich nach der Feuerflamme. So konnte das wiedergegebene Bild flackern oder auch durch Rauch eine bestimmte Note erhalten. Auch wurde das wiedergegebene Bild durch den Russ der Flamme schnell dunkler, was einen zusätzlichen gespenstigen Eindruck bewirkte.

Wir beschlossen, diese Bilder vorzuführen. Als Themen konnten wir „Christus fährt in den Himmel auf“ und „Bei den Wilden in Afrika“ anbieten.

Onkel Heinrich war Gastwirt und hatte neben einem großen Tanzsaal auch einen kleineren Raum für sonstige kleinere Veranstaltungen. Letztere Lokalität schien uns für eine Vorführung geeignet. Onkel Heinrich grienste bei seiner Zustimmung, was wir aber nicht zu deuten wussten. Vermutlich stellte er unsere Handlungsfähigkeit zu einem solchen Unterfangen in Frage.

Bei den Kindern machten wir nun Reklame für die Veranstaltung. Die Resonanz lag, entsprechend dem Trend der Zeit, über unserer Erwartung. Es kamen nicht nur Kinder unseres Alters, sondern auch sogenannte Kleinkinder, die von ihren Eltern liebevoll unserer Obhut anvertraut wurden. Der Eintritt kostete einen Groschen.

Brav sass man in Reihen mit dem Blick zur weißen Kalkwand hin gerichtet. Der Raum wurde verdunkelt. Die Vorführung begann.

„Christus Himmelfahrt“ erweckte Eindruck, zumal die Filmleitung noch einige sachliche und persönliche Erklärungen hinzu geben konnte. Aber, „Bei den Wilden in Afrika“, als ein furchterregender „Wilder“ mit starren Augen und einen Ring durch die Nase gesteckt an der Wand erschien und diese Wiedergabe auch noch von der schon etwas geschwärzten Linse und der flackernden Petroleumflamme beeinträchtigt wurde, brach das absolute Chaos aus. Besonders die Kleinkinder spielten verrückt. Sie schrieen vor Angst und wollten zur Mutti. Die Veranstaltung geriet aus den Fugen. Kein Kind saß mehr auf seinem Platz. Stühle kippten um, und der Projektor wackelte, was das Bild an der Wand wiederum noch eindrucksvoller werden ließ. Auch die schon etwas betagteren Kinder verloren die Fassung. Noch mehr Gebrülle!

Schnell schoben wir die Fenstervorhänge beiseite. Das gesamte Publikum stürzte aus dem Vorführraum. Erich und ich standen da wie zwei begossenen Pudel. Die Veranstaltung war misslungen, zumal später auch noch die Mütter der Kinder zu uns kamen und wollten das Eintrittsgeld zurückhaben, was wir aus Toleranz auch taten.

Wir hatten danach nie wieder eine Filmvorführung.

Buchecker suchen war nicht mein Fall

In den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg hatten wir wirklich eine arme Zeit. Wir waren eine recht große Familie. „Neun Mäuler habe ich zu stopfen!“ So drückte sich mein Vater immer aus. Dabei, das musste man objektiv so sehen, hatte auch jeder andere in der Familie seinen Beitrag zum Selbsterhalt zu leisten – so auch ich, das sogenannte „Nesthäkchen“ der Sippe. Ich musste z. B. mit meinen Schwestern in den Wald gehen und Buchecker suchen. Vater war sehr streng, andererseits aber auch gerecht. Wir Kinder hatten in seinem Sinne zu parieren. Wer dies tat, wurde gelobt auch schon mal belohnt. Wer es nicht tat, hatte nicht unbedingt seine Gunst.

Buchecker brauchten wir, um daraus beim Müller in Springiersbach Öl mahlen zu lassen, oder auch Bucheckerwürste anzufertigen. Dann wurden die Kerne zerquetscht, und dieser Prampes wurde so gewürzt, als wolle man aus dem Fleisch vom Schwein Wurst machen. Fertig war die Bucheckerwurst, die aber außer meinem Vater kaum jemanden schmeckte. Vielleicht tat er auch nur so?! Er hatte ja schließlich „neun Mäuler zu stopfen“, und eine Bucheckerwurst war seiner Meinung nach gesund - hatte also zu schmecken.

Bucheckersammeln war stinklangweilig. Im Wald versammelten sich zum Suchen immer ganze Cliquen. Hauptsächlich waren es Frauen und Mädchen, die über den Waldboden krochen und suchten. Bucheckersuchen war eigentlich keine Männersache. Ich suchte nie lange. Das war mir einfach zu blöde und langweilig. So entfernte ich mich nach und nach von meinen Schwestern und tat so, als würde ich woanders bessere Fundstellen haben. Bald war ich dann bei anderen Buben, die offenbar zum Sammeln nicht so streng von ihrem Vater angewiesen wurden wie ich. Sie verlockten mich immer, doch mit „Räuber und Gendarm“ zu spielen, was ich auch gerne tat. Dies machte Spaß und war viel kurzweiliger. Wir zogen durch den Wald, versteckten uns, watschten durch den Bach, kletterten auf Bäume und rauften uns mit der gegnerischen Truppe.

Entsprechend schlecht war dann am Abend meine Ernte. Meinem Vater konnte ich keinen Erfolg vorweisen, was er entsprechend in Ton und Gestik auszudrücken wusste. Dagegen wurden meine Schwestern wegen ihres Fleißes oft gelobt und erhielten auch Belohnungen.

In unserem Kolonialwarenladen war abends viel Betrieb. Mein Vater war dann gemeinsam mit meiner Mutter voll und ganz beschäftigt. Im Laden wurde zudem viel getratscht, gelacht und krakelt. Unser Geschäft war sozusagen das Kommunikationszentrum des Ortes. So merkte man nicht, wenn ich aus dem Wald kam, im Hausflur meine Nagelschuhe auszog und mich die Treppe hoch auf den Speicher schlich. Dort lagen Buckecker in Hülle und Fülle auf einem Haufen zum trocknen ausgelegt. Ich füllte meinen Beutel üppig mit Eckern, ging leise runter, zog meine Schuhe wieder an und trat mit meiner „Ernte“ in den Laden. Dort fand ich von allen Seiten große Bewunderung. Mein Vater belohnte meinen Fleiß umgehend und griff recht großzügig in die Ladenkasse. Beim Herausgehen von zwei Frauen aus dem Geschäft konnte ich noch hören, wie beispielhaft ich sei und wie faul ihre Päns wären, die rein gar nichts nach Hause brächten und lieber im Wald herumtollten. Ganz wohl war mir beim Zuhören nicht.

Diese Methode war jedoch aus meiner Sicht perfekt und wurde zur Gewohnheit. Ich machte den Beutel nicht immer ganz voll, sondern auch schon mal dreiviertel- oder auch nur halbvoll, wie dies ja auch bei den richtigen Sammlern draußen auch so vorkam. Meine Schwestern hatten nun wesentlich geringere Ernte als ich, worüber sie ziemlich neidisch waren, zumal Vaters Belohnungen bei ihnen dürftiger ausfielen. Was soll’s? Mir ging es gut und ging nun voller Lust mit Buchecker suchen.

Vermutlich lag es am Neid meiner Schwestern oder an den Müttern meiner „Waldkumpels“, die meinem Vater anrieten, mich doch abends einmal zu beobachten. So kam ich eines Abends mit meiner „Ernte“ vom Speicher herunter und wurde vom Vater in bösester Art empfangen, übers Knie gelegt und recht hektisch verdroschen. Seinen größten Ärger hatte er darüber, dass ich nicht nur faul war, sondern auch noch Geld für meine Faulheit einsteckte. Aber, was hätte ich anders tun sollen?

Wenn es dunkel wurde, brannten wir Kinder Schwefel

Es gab noch keine Kanalisation – Hühner rannten auf der Straße herum und pickten die Reste, die aus dem Spülstein auf die Straße flossen – Straßen waren zum Teil noch nicht gepflastert – überall standen Pfützen.

Ende der 40er Jahre, saß meine Familie abends in der Küche um den wärmenden Herd herum zusammen. In der Regel war ja nur ein Raum im Haus geheizt, um Brennholz zu sparen. Da auch Petroleum knapp und teuer war, brannte zumeist auch nur eine Öllampe. Dies allein schon verschaffte eine recht gemütliche und behagliche Stimmung. Es wurde erzählt und auch schon mal ein Nickerchen gemacht. Mein Vater rauchte immer zum Feierabend seinen Stumpen. Großmutter strickte und die Mutter stopfte die zerrissenen Strümpfe von uns Kindern. So ging es eigentlich in jeder Familie zu.

Allerdings war das Tagewerk für uns Buben dann nicht immer beendet. Wir machten gerne Streiche. Und verschiedene konnten wir am besten in der Dunkelheit machen. Jedoch durften wir, wenn am Abend schon die Betglocke geläutet hatte, nicht mehr vor die Türe. Um trotzdem noch aus dem Haus zu kommen, fand ich Ausreden. Überzeugend war immer, wenn ich angab, dass ich mit meinen Freund noch wegen nicht gelöster Schulaufgaben sprechen muss und ich aufpassen würde, dass mich auf der Gasse keiner sieht. Unser Lehrer oder Pfarrer machten immer wieder Kontrollgänge. Und wehe dem, der erwischt wurde! Es gab noch keine Straßenlaternen. So fand man recht schnell einen sicheren Schlupfwinkel, wenn Gefahr drohte. Dies war auch für meine Eltern ein überzeugendes Argument. „Pass aber bitte auf und komme nicht zu spät nach Hause“ und raus ging es in die Dunkelheit.

Ein beliebter Streich war das „Schwefelbrennen“. Eine tagsüber abgesprochene Horde traf sich an einer bestimmten Stelle. Es gab im Ort noch keine Kanalisation. Das Putz- und Spülwasser vom Haushalt floss direkt vom Spülbecken durch ein Rohr auf die Strasse und von dort aus über Rinnen in die Mosel. Jeder Winzer benötigte Schwefelspäne. Solche wurden angezündet und in ein leeres Weinfass gesteckt. Die Dämpfe waren dann so ätzend, dass nach einer solchen Prozedur das Fass absolut keimfrei war. An Schwefelspäne war einfach heranzukommen. Sie lagen offen irgendwo in jedem Weinkeller.

So steckten wir in das auf der Strasse endende Abflussrohr einen brennenden Schwefelspan und stopften das Rohr mit einem nassen Lappen zu. Der beißende Rauch zog in die Küche. Bis er im Dämmerlicht bemerkt wurde, hatte er sich schon überall hin verteilt. Und nun entstand das absolute Chaos. Aus war es mit der häuslichen Gemütlichkeit! Wie angesengte Wespen stürze die ganze Familie auf die Strasse. Die Kinder kreischten und rieben sich die Augen. Die Älteren wollte die „Sau-Päns“ und „Mist-Kerle“ kurzerhand umbringen. Doch die saßen in irgendeinem sicheren Versteck in der Nähe des Tatortes und beobachteten das Spektakel mit großem Interesse. War doch der Streich wieder einmal gelungen! Wenn dann die Luft wieder rein war, kehrte man an den heimischen Herd zurück und hatte mit dem Freund die Schulaufgaben ausreichend besprochen und endlich gelöst.

„Jugend forscht(e)“ – auch schon 1946

Es war im Jahr 1946. Eigentlich sollte ich schon im Jahr zuvor in die Schule gegangen sein. Aber unser Schulhaus in Neef a. d. Mosel war so vom Krieg demoliert, dass zum pünktlichen Zeitpunkt ein geregelter Schulbetrieb nicht möglich war.

Im Winter mussten wir Brennholz in die Schule mitbringen, damit der große Kanonenofen angefeuert werden konnte. Wenn es nämlich zu kalt im Schulsaal war und wir kalte Füße hatten, trampelten wir andauernd auf den Holzboden, um die Füße warm zu machen. Das war sehr störend für den Unterricht, aber auch lustig für uns Kinder. Hatten wir keine Lust zum lernen, dann steckten wir heimlich in den Ofen nasses Gras, und der Raum war im Nu voller Qualm. Dann husteten wir wie verrückt, rieben uns die Augen und liefen einfach hinaus auf den Schulhof, während Fräulein John, unserer Lehrerin, die Fenster aufriss und lüftete. Das brachte zwar frische Luft in den Saal, aber es wurde auch wieder kalt.

Fräulein John trug lange Röcke, war gertenschlank und ziemlich groß. Auf der Nase trug sie eine randlose Nickelbrille - schaute aber mehr über die Gläser hinweg, als dadurch. Ihre Haare waren streng angelegt und hinten zu einem Dutt geknotet. Sie war oft schlecht gelaunt und dann richtig giftig, weil wir angeblich böse, faul, frech, dumm und viel zu laut waren. Wegen ihrer Art nannten wir sie „Kreuzspinne“, was sie sehr ungern hörte. Eigentlich hatten wir ein recht gestörtes Verhältnis zu unserer Lehrperson. Es gab viel Prügel.

Mit einer Crash-Methode, schließlich wollte sie das verlorene Schuljahr aufholen, brachte sie uns das ABC bei. Dabei wandte sie viel Mimik an. Bei der Einführung des Buchstaben „o“ z. B. zog sie so eine Grimasse, dass man ihn tatsächlich an der Schnüss deutlich erkennen konnte. Bei dem „w“ spreizte sie beide Hände an den Ohren, und tatsächlich sah dies wie dieser Buchstabe aus. Um diese Erkenntnis noch zu untermauern gab sie an, dass durch die Fensterläden der Wind fegte, was ein langgezogenes „wwwww...“ verlauten ließ. Beim „e„ zog sie an dem Ohr eines Kindes, was mit dieser Lernmethode Schwierigkeiten hatte und rief: „du Eeeesel“. So ward das „e“ geboren. Das langgezogene Ohr sah dann wie ein „e“ aus. Beim Buchstaben „x“ mußte sie auf die Tierwelt zurückgreifen. Sie bezog sich auf einen Tintenfisch, der mit seinen Fangarmen so ähnlich aussehen sollte. Einen solchen Fisch hatten wir in der Mosel noch nie gefangen und kannten ihn nicht. Somit beschäftigte uns dieser Tintenfisch als solcher nach dem Unterricht mehr als das beigebrachte „x“.

Meine Eltern hatte einen Gemischtwarenladen. Dort trafen sich stets Leute, und es wurde immer viel erzählt und berichtet. Vater, Mutter, Großmutter, die älteren Geschwister und auch meine Tante, alle die im Laden verkauften, wussten viel – aber auch ich, da besonders am Abend, wenn wir um den Ofen in der Stube saßen, immer wieder gehörtes und erzähltes aufgefrischt wurde, wobei ich aufmerksam die Ohren spitzte.

Folglich wurde ich von meinen Kommilitonen befragt, was denn dieses „X-Tier“ für eine Kreatur sei. Die direkte Antwort konnte ich nicht geben, aber: „Ich zeige es euch!“ Es gab ja schließlich Fische einerseits und herkömmliche Tinte andererseits. Dies zusammengefügt musste ja, rein logisch gesehen, Tintenfische ergeben. Diese Erkenntnis sollte nun praktisch umgesetzt werden.

Auch Kaulquappen waren aus meiner Sicht Fische. Und wo solche waren wusste ich auch. So bildete sich eine wissenschaftliche Gruppe, bestehend aus Mädchen und Jungen. Ich leitete die Exkursion, die zu einer fast leeren Zisterne am Bahndamm führte. In dieser waren neben Salamandern und Fröschen auch viele Kaulquappen. Wir nannten diese Zisterne „Fröschegrube“. Mutig und zur besonderen Verwunderung der bezopften Damen stieg ich in die Grube und steckte eine größere Menge Kaulquappen in ein mitgebrachtes Einweckglas. Zu Hause kamen die Tiere in eine mit etwas Wasser gefülltes Waschbütte. Aus dem Laden entwendete ich eine gehörige Portion Tinte, die in einem größeren Behälter gelagert wurde. Wenn jemand Tinte brauchte, kam er mit seinem leeren Gläschen in den Laden und ließ es sich füllen. Ich benötigte allerdings etwas mehr und füllte jenes Einweckglas voll. Die Tinte schüttete in die Bütte, und nun sollte sich das Experiment entwickeln.

Am anderen Tag, gleich nach dem Schulbesuch, wollten wir dann den Erfolg sehen. Doch die Wissenschaft hat ihre eigenen Gesetze, und sie ist offenbar nicht immer auf Logik aufgebaut: Alle Kaulquappen waren tot und schwammen leblos mit ihren weißen Bäuchen auf der Tintenlauge. Das Experiment war missglückt. So gewannen wir lediglich die Erkenntnis, dass Tintenfische manuell nicht herzustellen sind.

Und meine Großmutter, sie nannte sich „Pitter-Jusep's Gritt“ (dem Peter Josef seine Gretel) stand da und schüttelte den Kopf. Sie hatte zur Forschung kein Verhältnis und verpetzte mich wegen der stibitzten Tinte beim Vater. Der, auch ohne Verständnis für kreative Kinder, gab mir zur Strafe „ab, zum Rebenraffen in den Weinberg!“ auf. Das war nun das Echo für ein naturwissenschaftliches Experiment! Heute werden solche Projekte, die auch nicht immer von Erfolg gekrönt sind, sogar über „Jugend forscht“ gefördert und prämiert!

„Es geht wieder aufwärts!“

So hörte man es 1948 immer wieder. Die Leute waren geradezu in einer Euphorie. Man brauchte keine Lebensmittelkarten mehr. Es gab nicht mehr die Zuteilungen. Man konnte kaufen, was vorhanden war. Und da gab es schon wieder vieles. Wo nur so plötzlich alles herkam?! Die Währungsreform hatte offenbar dazu beigetragen. Es grenzte schon an ein Wunder, was die neue Deutsche Mark alles fertig brachte.

Auch Vaters Weingeschäft lief prächtig. Die Nachfrage nach Wein war groß. Die ganze Familie war oft noch spät am Abend im Keller beschäftigt, wenn ein Großauftrag kam und Flaschen gespült, abgefüllt und etikettiert werden mussten. Am anderen Tag kam dann die Kuh an den Karren, und die Weinkisten wurden zum Neefer Güterbahnhof transportiert. Ja, den gab es damals – mit Rampe, Kran und einer recht großen Halle.

So kam denn Vater auch einmal voll gut gelaunt von einer Geschäftsreise zurück. Schecks und einen ganzen Bündel der neuen DM-Scheine brachte er mit. Auch von neuen Bestellungen konnte er berichten. In dieser Euphorie hatte er wohl auch an seine Familie gedacht und brachte für uns alle eine Kurpackung „bade dich gesund“ mit. Das Päckchen stammte zwar offensichtlich noch aus der Vorkriegszeit, da es stark lädiert und der Inhalt zerklumpt war. Die Gebrauchsanweisung war aber noch deutlich zu lesen, und die besagte, dass der Inhalt für drei Bäder reichte. Da unser Haushalt jedoch neun Personen zählte, legte Vater fest, dass am kommenden Samstag (samstags war immer Badetag) gesundgebadet wurde und dass in einer Badewannenfüllung jeweils drei Personen badeten.

Gemäß meinem Stellenwert in der Familie (ich war das jüngste Mitglied) kam ich somit bei der letzten Füllung als Letzter, also als neunter, dran. Die Badewanne sah längst nicht mehr so aus, wie sie mein Vater, der natürlich als erster badete, vorfand. Aber was soll es? Ich wollte schließlich auch gesund werden.

Wir saßen denn bald am Abend-Tisch, gut durchblutet, bestens gelaunt und gesund wie noch nie. Dem Vater gegenüber waren wir dankbar, dass er so an seine Familie gedacht hat und stellten zudem fest: Ja, es geht wirklich wieder aufwärts!

 
 
erschienen in:
Jahrbuch des Kreises Cochem-Zell, 2000
Rhein-Hunsrück-Kalender, 2002
Rhein-Hunsrück-Kalender, 2005
Rhein-Hunsrück-Kalender 2007
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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